Im Auge des Betrachters



Moin,

ein Jahr vergeht mittlerweile extrem schnell. Manchmal wirkt es, ich kann es nicht genug betonen, so, als hätte jemand einfach für mich in einen unermesslich hohen Gang geschaltet und seitdem zieht das Leben förmlich an mir vorbei - nicht unbedingt in einem schlechten Sinne. Es ist gleichzeitig viel passiert und im selben Zug ist vieles noch genauso, wie es mal war. So ganz hab ich das auch noch nicht durchschaut. Vielleicht hat mich im letzten Jahr nichts genug aufgeregt, aber das ist nicht wahr - ich saß oft genug mit Wut-Tränen vor den Nachrichten oder war sprachlos und entsetzt - warum auch immer ich nicht geschrieben habe, das habe ich in den letzten Tagen überwinden können. Manchmal braucht es mehrere Sachen auf einmal, damit sich bei mir etwas in Bewegung setzt und um ehrlich zu sein ist es auch nicht leicht, all die Gedanken und Meinungen immer in einen geordneten Wortstrom zu formen. Mich hat in den letzten Tagen oder mittlerweile sogar Wochen etwas beschäftigt, was eventuell nicht besonders vorreitend oder neu ist, aber ich hatte das Gefühl, es nochmal zu sagen. 

"Wie Schuppen von den Augen fallen." "Tomaten auf den Augen haben." "Etwas ist jemandem ein Dorn im Auge." "Jemanden aus den Augen verlieren." "Die Augen sind das Fenster zur Seele."

Unser Sehsinn ist im Vergleich zu dem anderer Lebewesen ziemlich schlecht. Bestimmte Adlerarten können beispielsweise ein Fingerschnippen in drei Kilometer Entfernung sehen. Dennoch messen wir unserer Sehkraft extrem viel bei. Vielleicht fühlen wir uns deswegen berechtigt, etwas in einfache Sachverhältnisse, die wir zu verstehen glauben, hineinzuinterpretieren. 
Jeder hat schon mal eine optische Täuschung angeschaut, in der Farben oder Elemente scheinbar zu erkennen sind, die das Bild gar nicht abbildet. Daran lässt sich sehr gut zeigen: Wir lassen uns leicht darin beeinflussen, was wir sehen und wie wir es interpretieren. Einfach nur durch den Kontext in dem wir uns gerade befinden, ob wir nun absichtlich oder willkürlich beeinflusst wurden. Wir wissen, wie trügerisch unser Gehirn sein kann. 
Warum hinterfragen wir dann nicht viel häufiger unser Urteil über das, was wir sehen? 

Vorurteile. Ich habe sie, du hast sie und die Person, die gerade neben dir sitzt oder dein Nachbar - wir haben alle Vorurteile. 
Wir sehen etwas, interpretieren es aufgrund von Erfahrungen und unseren vorgefertigten Analysetools und bewerten es. Daran war einmal nichts falsch, es ist ein wichtiger Mechanismus, der uns hilft, Situationen vorausschauend zu deuten. Früher ging es eigentlich darum, Gefahren einzuschätzen - insofern ist das schnelle Interpretieren von Situationen eine nützliche und lebenserhaltende Technik, die aber aufgrund ihrer tiefliegenden Bedeutung sehr schwer zu überarbeiten ist. Genauso wie Reflexe können wir unsere blitzschnelle Situationsanalyse kaum stoppen. Mittlerweile leben viele Menschen in einer luxuriösen Welt, die diese Mechanismen nicht mehr als Überlebensstrategie erfordert. Wir machen trotzdem munter weiter.
Für jeden Typ Mensch haben wir ein Bild im Kopf, eine Assoziation, die aus tausend unterschiedlichen Faktoren so ist, wie wir sie eben vor uns haben. Leider lassen wir uns davon immer noch beeinflussen. Sei es nun ein wertender Vergleich zwischen der Realität und unserem Vorurteilsbild, eine Zuordnung eines Menschen in eine Kategorie, weil er in unser Vorurteilsraster fällt, eine Äußerung darüber, dass ein Mensch nicht in unsere Vorstellung einer Kategorie passt - und eine daraus abgeleitete Infragestellung der Identität dieser Person. Unsere Vorurteile beeinflussen uns immer noch. Manchmal auch diejenigen, die sich vielleicht frei von allen Vorbehalten gegenüber jedweder Gruppierung empfinden.




Wir Menschen sind herrlich einfach gestrickt. Viel einfacher, als wir es uns einbilden oder wünschen.
Und wir wissen: Ein Gehirn formt und entwickelt sich durch die Erfahrungen, die der dazugehörige Organismus gemacht hat. Der Spruch "Fische werden nur so groß wie ihre Aquarien" ist als Metapher in diesem Kontext ziemlich treffend. Ich sehe also ein, dass es schwer ist, tief in unserem Gehirn eingearbeitete Mechanismen zu überarbeiten.
Warum aber nicht mal einen Versuch wagen? Warum halten wir nicht mehr inne und fragen uns, ob unsere Interpretation der Dinge nicht auch fehlerhaft ist? Warum lässt die Tatsache, dass unsere Wahrnehmung der Umwelt nur eine Abbildung ist und keinesfalls eine Replikation, nicht mehr Menschen aufhören?

Ist ein Mann in einem Flugzeug, der einen Vollbart und eine Gebetsmütze trägt und nervös betet, etwa Dschihadist?

Wie fähig ist eine junge Frau Mutter zu sein, wenn sie gerade noch ein Kind war?

Ist eine Frau, die schon zum zweiten Mal in diesem Monat eine Pille danach braucht, unverantwortlich?

Wirkt ein homosexueller Mann nicht authentisch, wenn er gern boxt und Autorennen schaut und liebend gern Bier trinkt?

Auf jede einzelne Situation habe ich eine Antwort: Es geht uns nichts an. Wir lassen so viele Dinge von uns abperlen, verschließen die Augen, aber wir sind uns nie zu schade für unangebrachte Spekulationen.

Ich wünschte, wir hörten auf, die Welt als schwarz und weiß zu sehen. Vielleicht wäre es mal an der Zeit, die Dinge einfach mal so zu sehen, wie sie sind. Und nicht als das, was wir daraus machen. Was uns geschieht, was wir erfahren, ist immer das, was wir daraus machen - das ist sowohl ein Fluch als auch ein Segen. In jedem Sinn ist es aber etwas, das wir beeinflussen können.
Es ist egal, ob es um Sexualität, Ethik, Flüchtlingspolitik, Selbstbestimmung, Umweltschutz oder Ernährung und alles was da sonst noch kommt geht. Menschen sind mehrdimensional. Wir fühlen uns innerhalb eines Tages mal eher gut, mal eher schlecht, genauso schwanken unsere Essensvorlieben, unsere Ansichten zu politischen Themen. Unsere Eigenschaften und Auswüchse sind keine Schlagzeilen oder in Stein gemeißelte Thesen. Das, was uns, jeden einzelnen im Detail, ausmacht, ist fluide. Dann sollten wir doch auch unsere Weltanschauung an uns anpassen.
Nehmen wir nämlich mal unsere extrem deutschen Etiketten und Klebchen von den ganzen Schubladen, die in unser Hirn eingebaut sind, könnten wir vielleicht etwas relativ banales verstehen. Das, was den Inhalt einer Schublade ausmacht, ist der Inhalt der Schublade. Nicht das, was außen dran steht. Also. Erst in die Schublade gucken. Dann jemandem erzählen was du gesehen hast, nicht was da drin ist.
Falls du weniger mit Worten als mit Mathe am Hut hast: Es ist unprofessionell, easy peasy lemon squeezy Kausalaussagen über die Population von der völlig unrepräsentativen Stichprobe, die du eventuell vor dir hast, zu machen. Just don't.
Jeder Mensch, dem du heute begegnest, hat seine Gründe, das zu tun, was er tut. Und es so zu tun, wie er es tut. Solange er damit niemandem die persönliche Freiheit nimmt, ist das sein Ding. Und bedarf keines Urteils.

Immer in Liebe,

Thea



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