Endspurt Menschlichkeit Band 1

Heute Morgen habe ich mich mit Kaffee und Joghurt an den Schreibtisch gesetzt und wollte, bevor ich alle 300 Slides für meine Histologie Prüfung morgen nochmal durchgehe, eben durch die Zeit Online Seite scrollen. Das habe ich gemacht, an dem „eben“ ist es gescheitert. Es gibt viele Nachrichten zu den Kanzlerkandidat*innen und zur Hochwasserkatastrophe, den Folgen der Pandemie und ob meine Impfung jetzt doch totaler bums war, weil sie eh nicht mehr so wirksam ist wie zu Beginn des Jahres. An einer Kolumne bleibe ich hängen, weil sie vor „Gendern verhunzt die deutsche Sprache“ bis zum Himmel stinkt. Natürlich ist der*die Autor*in keine Muslima oder Romnja sondern ein weißer Mann, der gern etwas loswerden möchte. Ich lese „eine Minderheit der Gesellschaft will uns eine Meinung aufdrücken“. Zu denken, dass das Einfordern von mehr Respekt und weniger Diskriminierung eine Meinung sei, ist ein Trugschluss. Nicht mehr aufgrund der Tatsache, von der Demografie des Autors abzuweichen, diskriminiert werden zu wollen, ist keine Bitte, kein Wunsch, keine Hoffnung. Es ist ein Einfordern und Grenzen aufzeigen. 

Mich hat eine Diskussion in einem neuen Trash-Format zuletzt schmerzlich darauf aufmerksam gemacht, dass bei Debatten über Diskriminierung der Anteil an Meinungsinhabenden wesentlich größer ist als der Anteil der gehörten Diskriminierten. Jemand, der nicht diskriminiert wird, hat eine Meinung. Die Diskriminierten möchten lediglich davon ausgehen, gleich viel Mensch und gleich viel Respekt wert zu sein, wie ihr Gegenüber. Um es deutlicher zu machen: Ich habe beim Lesen der Kolumne heute morgen eine sehr klare Vorstellung davon, wer hier wem eine Meinung aufdrückt. 
Mich wundert es immer wieder, warum die Stimmen der nicht Betroffenen so viel lauter sind als die der Menschen, die wirklich gehört werden sollten. Warum erzählt mir ein weißer Mann davon, dass seine Sprache nicht diskriminierend sei, wenn er es gar nicht wissen kann? Warum ist ihm die Schönheit seiner Worte wichtiger, als dass jeder Mensch gleichwertig behandelt werden sollte? Sogenannte Ästhetik geht wirklich vor Menschlichkeit?
In meinem Seminar zur medizinischen Psychologie gab es zuletzt eine kleinere Auseinandersetzung zum Thema Gendern. Die Dozentin hatte auf einigen Folien Doppelpunkte oder Sternchen benutzt, um darauf hinzuweisen, dass es nicht nur Studenten und Studentinnen gibt, nicht nur Ärzte und Ärztinnen. In der Feedbackrunde schrieb eine*r meine*r Kommiliton*innen, er*sie empfände das Gendern meiner Dozentin zu viel. Vom generischen Maskulin fühle sich jeder angesprochen und das wäre für den Lesefluss besser. Dass jemand, der*die so öffentlich bekundet, aus reiner Bequemlichkeit auf eine faire Ansprache verzichten zu wollen, mit mir in einem so menschennahen Fach studiert, hat mir Gänsehaut bereitet. Klar, vielleicht wird diese Person mal Chirurg*in, aber selbst die müssen mal in Kontakt mit Menschen bei Bewusstsein kommen. Von der Respektlosigkeit gegenüber der Dozentin will ich gar nicht anfangen. 
Sich als Cis-Frau oder Cis-Mann darüber zu beschweren, dass man beim Lesen über Satzzeichen stolpert, die einer Diskriminierung extrem niedrigschwellig entgegenwirken sollen, ist in etwa so angebracht, wie wenn ich sagen würde, dass ich barrierefreie WCs nicht ästhetisch finde. Oder Fahrstühle oder Rampen. Es kann mir doch egal sein, ob da etwas steht, wenn es sowieso nicht für mich bestimmt ist. Außerdem macht mir der Gedanke, dass sich Menschen mehr von inklusiver Sprache im Redeflussgestört fühlen, als von Rechtschreibfehlern, Angst. Denn das zeigt: Es geht nicht um das kleine Sternchen, es geht nicht um Doppelpunkte oder ein paar mehr Buchstaben. Es geht darum, dass wir uns in der Feindlichkeit gegenüber allem, was nicht ein weißer Cis-Mann ohne Behinderung ist, viel zu wohl fühlen. 

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