Viel Lärm um Nichts


 
Und dann war es wieder soweit. Du musstest weinen, als du die tote Gans im Kanal treiben sahst. Du musstest hinter der Sonnenbrille weinen, als der Dackel, den du sonst religiös gefilmt hast, an dir vorbei wackelte. Du musstest weinen, als du das leere Nest der Haubentaucher sahst. Du musstest weinen, als die Blesshuhn-Küken auf dem Kanal tauchen übten. Du hattest wieder Ohrwürmer von Liedern, die dir das Herz brachen. Bei jedem Toilettengang während deiner Schicht ließt du dir gut durch den Kopf gehen, ob du eine Weinpause brauchst. Denn dann wäre der nächste Slot erst in einem adäquaten Abstand frei. Der gute alte Zyklus. Wieder aßt du nichts, wieder Kopfschmerzen und Übelkeit, wieder keine Luft bekommen. Einmal musstest du lachen, weil du vor Sauerstoffmangel aufgrund des zusammengekrampften Brustkorbs gähnen musstest zwischen zwei Schluchzern. Das war irgendwie niedlich, dachtest du. Müde warst du wirklich. "Ich hoffe, dir geht es bald besser." Sowas machte dich wütend. Du konntest nicht genau sagen, warum. Aber sauer warst du. Sehr sauer. Ausnahmsweise schautest du nun mal Serien und Filme, die nicht spannend waren, sondern einfach nur unterhaltsam. Keine Podcasts zur Selbstoptimierung, kein neues Buch für deinen Psychoedukationsreigen. Du schaltetest schnell die drei ??? an, sahst dir nur noch Comics und Modern Family an. Deine Mitbewohnerin und ihr Freund ließen dich von ihrer kalten Spezi trinken und deine anderen Mitbewohnerinnen machten dir Obstsalat. Sie schnitten Apfelschnitze wie deine Oma und deine Mutter und du gabst dir Mühe, nicht daran zu denken. 

"Wir alle wissen, was wir an dir haben." "Du bist so warm, dass ich mich dabei erwische, wie ich gern ich selbst bei dir sein möchte." "Wir kennen uns zwar nicht, aber ich musste dir einfach schreiben, weil du so viel Liebe ausstrahlst. Trinken wir mal einen Kaffee?" "Danke, dass du deine Liebe so großzügig an uns verteilst." 

Du liebtest die Wissenschaft dafür, dass alles kontrolliert und geregelt ablief. Aber nicht, wenn sie dir unangenehme Wahrheiten auftischte. Bei der gigantischen und wirklich repräsentativen Stichprobe an Menschen, die dir ihre Wertschätzung daließen, von Verwandten bis zu wortwörtlichen Fremden, an all diesen Worten musste doch irgendwas dran sein? All die Menschen, die dir Liebe und Zuneigung in ein großes Bad einließen, immerwährend warm und sicher. Ohne etwas dafür zurückzubekommen, außer dein betretenes Schweigen. Mittlerweile sprach also nichts mehr gegen den Wahrheitsgehalt ihrer Worte, und trotzdem fühltest du dich wie das kleine Kind, das in unbequeme, kratzige Wollkleidung gesteckt wurde, die überall zwickte. Warum zwickte denn Wertschätzung so? Vielleicht, weil du dich stets sorgtest, man könnte dich enttarnen. 

Doch dann gab es die Menschen, die dich kannten, in und auswendig. Und die sorgten dafür, dass du mit ihren Worten auf dem roten Teppichboden saßt, in der Dunkelheit und Stille des großen Hauses. Und wenn niemand dir zusah, niemand dich hören konnte, niemand reinplatzen und rufen könnte: "Ha! Da haben wir sie! Die falsche Schlange!" - dann ließt du sie zu, die Fantasie, sie alle könnten Recht haben. Und dich sogar besser kennen als du dich selbst. Denn die Färbung, in der du dich kasteitest, vielleicht war sie die falsche. Wie ein teures Kleid, das du nie anzogst - weil es etwas selbstverherrlichendes hatte, sich so zu kleiden - legtest du diese Fantasie an. Vielleicht, vielleicht, vielleicht, hier, auf dem roten Teppichboden, im Supermond im Juli, vielleicht lag darin auch etwas Wahrheit. Vielleicht warst du liebenswürdig. Allem zum Trotz. Oder aufgrund allem. Und vielleicht war es auch langsam aus der Mode so hart zu sich zu sein. Ein bisschen lächerlich kamst du dir eben auch dabei vor. Was für ein Theater. So viel Lärm um Nichts. 

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